DREIZEHN
Hatte ich seine Stimme schon unbeschreibbar gefunden und wie sie mich in Stille hüllt, so war mir seine Berührung unglaublich erschienen. Sie ließ meine Haut erwachen, und wie er küsst - also das ist wirklich nicht von dieser Welt. Obwohl ich keine Expertin bin - ich habe schließlich erst ein paar Jungen geküsst -, bin ich trotzdem bereit, zu wetten, dass ein Kuss wie dieser, ein so vollständiger und alles übertreffender Kuss, etwas ist, das nur ein Mal im Leben vorkommt.
Als er sich von mir löst und mir in die Augen sieht, schließe ich meine wieder, fasse die Aufschläge seines Rocks und ziehe ihn abermals an mich.
Bis Haven sagt: »O Mann, ich habe dich überall gesucht. Hätte mir denken sollen, dass du dich hier draußen versteckst.«
Ich fahre zurück, entsetzt, auf frischer Tat ertappt worden zu sein, nicht lange, nachdem ich geschworen habe, dass ich mir nichts aus ihm mache.
»Wir haben nur -«
Abwehrend hebt sie die Hände. »Bitte erspar mir die Einzelheiten. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass Evangeline und ich abhauen.«
»Jetzt schon?«, frage ich und überlege, wie lange wir schon hier draußen sind.
»Ja, meine Freundin Drina ist vorbeigekommen, sie nimmt uns mit zu 'ner anderen Party. Ihr könnt euch gern einklinken, allerdings scheint ihr ja schwer beschäftigt zu sein.« Sie grinst hämisch.
»Drina?«, stößt Damen hervor und fährt so schnell in die Höhe, dass sein ganzer Körper nur ein undeutlicher Schemen ist.
»Du kennst sie?«, fragt Haven, doch Damen ist schon weg, bewegt sich so schnell, dass wir ihm in aller Eile folgen.
Ich haste hinter Haven her, verzweifelt bemüht, sie einzuholen, ihr alles zu erklären, aber als wir die Terrassentür erreichen und ich sie an der Schulter packe, erfüllt mich eine solche Dunkelheit, ein so überwältigender Zorn, dass mir die Worte auf der Zunge gefrieren.
Dann macht sie sich los, funkelt mich über die Schulter hinweg an und sagt: »Ich hab dir doch gesagt, dass du im Lügen obermies bist«, ehe sie weiterläuft.
Ich hole tief Luft und gehe ihr nach, folge den beiden durch die Küche, durchs Fernsehzimmer und zur Haustür, den Blick fest auf Damens Hinterkopf gerichtet. Mir fällt auf, dass er sich so schnell und zielsicher vorwärtsbewegt, als wüsste er genau, wo er sie findet. Und vor der Tür erstarre ich in dem Moment, in dem ich sie zusammen sehe - er in seiner Pracht des achtzehnten Jahrhunderts, und sie so prunkvoll, so wunderschön, so erlesen als Marie Antoinette verkleidet, dass sie mich glatt aussticht.
»Und du bist bestimmt...« Sie hebt das Kinn, als ihre Augen auf meine treffen, zwei leuchtende Sphären aus tiefem Smaragdgrün.
»Ever«, murmele ich und sehe die blassblonde Perücke, die makellose Sahnehaut, das Perlengewirr an ihrem Hals. Sehe, wie ihre rosigen Lippen Zähne preisgeben, die so weiß sind, dass sie kaum wirklich zu sein scheinen.
Ich wende mich an Damen und hoffe, dass er mir erklären, irgendeine logische Begründung dafür abgeben kann, wie das rothaarige Mädchen aus dem St. Regis in meinen Hausflur gekommen ist. Doch er ist zu sehr damit beschäftigt, sie anzustarren, um auch nur meine Existenz zur Kenntnis zu nehmen.
»Was machst du hier?«, fragt er, und seine Stimme ist fast ein Flüstern.
»Haven hat mich eingeladen.« Sie lächelt.
Und als mein Blick von ihr zu ihm wandert, erfüllt kalte, harte Furcht meinen Körper. »Woher kennt ihr euch?«, erkundige ich mich, und mir fällt auf, dass Damens ganzes Auftreten sich verändert hat, dass er plötzlich frostig, kalt und distanziert ist - eine dunkle Wolke, wo sonst die Sonne war.
»Ich habe sie im Nocturne kennen gelernt«, meint Drina und sieht mich unverwandt an. »Da fahren wir jetzt hin. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass wir sie entführen?«
Ich kneife die Augen zusammen und achte nicht auf das Zucken in meinem Herzen, den schmerzhaften Stich in meinen Eingeweiden, während ich versuche, irgendetwas von ihr aufzufangen. Doch ihre Gedanken sind völlig unzugänglich, sind vollkommen abgeschottet, und ihre Aura ist nicht vorhanden.
»Ach, wie dumm von mir, du meintest Damen und mich, nicht wahr?« Sie lacht, und ihr Blick wandert langsam über mein Kostüm, bis er wieder bei meinen Augen anlangt. Und da ich nicht antworte, nickt sie und sagt dabei: »Wir kennen uns von früher, aus New Mexico.«
Nur sagt Damen »New Orleans«, als sie »New Mexico« sagt, woraufhin Drina ein Lachen ertönen lässt, das nicht bis zu ihren Augen reicht.
»Sagen wir einfach, wir kennen uns schon sehr lange.« Wieder nickt sie, streckt die Hand nach meinem Ärmel aus und lässt die Finger bis zu dem perlenbesetzten Saum gleiten, ehe sie zu meinem Handgelenk hinabwandern. »Schönes Kleid«, bemerkt sie und fasst fest zu. »Hast du das selbst gemacht?«
Ich reiße meinen Arm los, weniger vor Entrüstung darüber, verspottet zu werden, sondern mehr wegen der Kälte ihrer Finger, dem eisigen Kratzen ihrer Nägel, die meine Haut gefrieren und Eis durch meine Adern schießen lassen.
»Ist sie nicht supercool?« Haven betrachtet Drina mit jener Ehrfurcht, die sie sich normalerweise für Vampire, Gothic-Rockstars und Damen aufhebt. Derweil steht Evange-line neben ihr, verdreht die Augen und schaut auf die Uhr.
»Wir müssen echt los, wenn wir um Mitternacht im Nocturne sein wollen«, drängt sie.
»Ihr könnt gern mitkommen.« Drina lächelt. »Die Limousine hat allen Komfort zu bieten.«
Und als ich Haven ansehe, kann ich hören, wie sie denkt: Sag nein, sag nein, bitte sag nein.
Drina schaut zwischen Damen und mir hin und her. »Der Fahrer wartet«, trällert sie.
Ich drehe mich zu ihm um, und mein Herz fällt in sich zusammen, weil ich sehe, wie er mit sich kämpft. Dann räuspere ich mich und zwinge mich, zu sagen: »Du kannst gern mitfahren, wenn du willst. Aber ich muss hierbleiben. Ich kann mich ja wohl schlecht von meiner eigenen Party verdrücken.«
Dann lache ich und versuche, locker und beiläufig zu klingen, während ich in Wahrheit kaum atmen kann.
Drina blickt erneut zwischen uns hin und her, die Brauen emporgezogen, das Gesicht hochmütig, und man merkt ihr nur das leiseste Aufblitzen eines Schocks an, als Damen den Kopf schüttelt und statt nach ihrer nach meiner Hand greift.
»Es war wirklich toll, dich kennen zu lernen, Ever«, sagt Drina und zögert kurz, bevor sie in die Limousine steigt. »Aber wir sehen uns bestimmt wieder.«
Ich sehe ihnen nach, wie sie losfahren, dann wende ich mich an Damen. »Also, wen sollte ich als Nächstes erwarten, Stacia, Honor und Craig?«
Sobald die Worte heraus sind, schäme ich mich dafür, das gesagt zu haben, gezeigt zu haben, was für ein kleinlicher, eifersüchtiger, erbärmlicher Mensch ich bin. Es ist ja nicht so, als ob ich es nicht besser wüsste. Also sollte ich wohl nicht so überrascht sein.
Damen ist ein Spieler, ganz einfach.
Heute Abend war nur zufällig ich an der Reihe.
»Ever«, sagt er und fährt mir mit dem Daumen über die Wange. Und gerade als ich Anstalten mache zurückzuweichen und seine Ausreden nicht hören will, sieht er mich an und flüstert: »Ich sollte wahrscheinlich lieber auch gehen.«
Ich suche seine Augen, und mein Verstand akzeptiert eine Wahrheit, die mein Herz lieber weit von sich weisen würde. Ich weiß, dass an dieser Aussage mehr dran ist, Worte, die er nicht hinzugefügt hat: Ich sollte gehen - damit ich sie noch einholen kann.
»Okay, na ja, danke, dass du gekommen bist«, sage ich endlich und höre mich weniger wie eine künftige feste Freundin an, sondern mehr wie eine Kellnerin nach einer besonders langen Schicht.
Doch er lächelt nur, zieht die Feder aus meiner Perücke und streicht damit meinen Hals hinab. Dann tippt er mir mit der Spitze auf die Nase und fragt: »Als Andenken?«
Ich habe kaum eine Chance zu antworten, da sitzt er schon in seinem Auto und fährt davon.
Langsam sinke ich auf die Stufen, den Kopf in den Händen, während meine Perücke gefährlich schwankt, und wünsche mir, ich könnte einfach verschwinden, durch die Zeit zurückreisen und noch einmal neu anfangen. Ich weiß, ich hätte ihm niemals erlauben dürfen, mich zu küssen, hätte ihn nicht hereinbitten sollen ...
»Da bist du ja!«, sagt Sabine, packt mich am Arm und zieht mich auf die Beine. »Ich habe dich überall gesucht. Ava hat sich bereiterklärt, noch lange genug zu bleiben, um dir die Zukunft zu deuten.«
»Aber ich will meine Zukunft nicht gedeutet haben«, wehre ich ab; ich möchte sie nicht kränken, aber ich will auch nicht mitmachen. Ich möchte einfach nur in mein Zimmer gehen, diese Perücke abnehmen und in einen langen, traumlosen Schlaf sinken.
Sabine hat sich ordentlich Partypunsch genehmigt, was bedeutet, dass sie zu angesäuselt ist, um zuzuhören. Also schnappt sie sich meine Hand und führt mich ins Fernsehzimmer, wo Ava wartet.
»Hallo, Ever.« Ava lächelt, als ich auf den Stuhl sinke, den Rand des Tisches umklammere und darauf warte, dass Sabines trunkene Energie verfliegt.
»Lass dir ruhig Zeit.« Wieder lächelt sie.
Ich betrachte die Tarotkarten, die vor mir ausgelegt sind. »Ah, nehmen Sie's nicht persönlich, aber ich möchte mir nicht die Karten legen lassen«, sage ich und schaue ihr kurz in die Augen, ehe ich den Blick abwende.
»Dann werde ich das auch nicht tun.« Sie sammelt die Karten ein und beginnt, sie zu mischen. »Was hältst du davon, wenn wir einfach nur so tun, um deiner Tante eine Freude zu machen? Sie sorgt sich um dich. Fragt sich, ob sie alles richtig macht - ob sie dir nicht genug Freiheit lässt, ob sie dir zu viel Freiheit lässt.« Sie sieht mich an. »Was meinst du?«
Ich zucke mit den Schultern und verdrehe die Augen. Das kann man ja wohl kaum als Offenbarung bezeichnen.
»Weißt du, sie wird heiraten.«
Verblüfft sehe ich auf, und mein Blick begegnet dem ihren.
»Aber nicht heute.« Ava lacht erneut. »Und auch nicht morgen. Also keine Angst.«
»Warum soll ich denn Angst haben?« Ich rutsche auf meinem Stuhl herum und sehe zu, wie sie den Kartenstapel in zwei Hälften teilt, ehe sie die Karten zu einem Halbmond auslegt. »Ich will doch, dass Sabine glücklich ist, und wenn sie das glücklich macht -«
»Das stimmt. Aber du hast im letzten Jahr schon so viele Veränderungen erlebt, nicht wahr? Veränderungen, mit denen du immer noch klarzukommen versuchst. Es ist nicht einfach, stimmt's?« Sie sieht mich an.
Ich antworte nicht. Und warum sollte ich auch? Bisher hat sie nichts annähernd Weltbewegendes oder Erkenntnisreiches von sich gegeben. Das Leben ist voller Veränderungen, so was aber auch. Ich meine, geht's nicht mehr oder weniger genau darum? Zu wachsen und sich zu verändern und weiterzumachen? Außerdem ist Sabine ja nicht gerade ein Rätsel. So komplex ist sie wirklich nicht oder so schwer zu begreifen.
»Also, wie kommst du mit deiner Gabe zurecht?«, erkundigt sich Ava und dreht ein paar Karten um, während sie andere unaufgedeckt liegen lässt.
»Mit meiner was?« Ich starre sie an und frage mich, worauf sie hinauswill.
»Mit deiner hellseherischen Gabe.« Lächelnd nickt sie mit dem Kopf, als wäre das eine Tatsache.
»Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden.« Ich presse die Lippen zusammen, schaue mich im Zimmer um und sehe Miles und Eric mit Sabine und ihrem Begleiter tanzen. Und ohne dass sie es merken, auch mit Riley.
»Am Anfang ist es schwer.« Wieder nickt sie. »Glaub mir, ich weiß das. Ich war die Erste, die vom Tod meiner Großmutter gewusst hat. Sie ist direkt in mein Zimmer gekommen, hat am Fußende von meinem Bett gestanden und zum Abschied gewinkt. Ich war damals erst vier, du kannst dir also vorstellen, wie meine Eltern reagiert haben, als ich in die Küche gerannt bin, um es ihnen zu erzählen.« Sie schüttelt den Kopf und lacht. »Aber du verstehst es, denn du hast sie auch gesehen, richtig?«
Ich starre die Karten an, die Hände fest ineinander verschlungen, und sage kein Wort.
»Es kann sich so überwältigend anfühlen, einen so isolieren. Aber das muss nicht sein. Du brauchst dich nicht unter einer Kapuze zu verstecken und deine Trommelfelle mit Musik zu Grunde zu richten, die dir nicht einmal gefällt. Es gibt Möglichkeiten, damit umzugehen, und ich würde dir gern zeigen, wie es geht. Du brauchst nicht so zu leben, Ever.«
Ich umklammere die Tischkante und stehe von meinem Stuhl auf. Meine Beine fühlen sich zittrig an, mein Magen rumort. Die Frau ist verrückt, wenn sie glaubt, dass das, was ich habe, eine Gabe ist. Denn ich weiß es besser, ich weiß, dass es nur eine weitere Strafe ist, für alles, was ich getan, alles, was ich verursacht habe. Es ist meine ganz persönliche Bürde, und ich muss eben damit zurechtkommen. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sage ich endlich.
Doch sie nickt nur und schiebt mir eine Karte hin. »Wenn du so weit bist, kannst du mich hier erreichen.«
Ich nehme die Karte, aber nur, weil Sabine uns von der anderen Seite des Zimmers aus beobachtet und ich nicht unhöflich erscheinen will. Dann drücke ich sie mit der Handfläche zu einer harten, zornigen Kugel zusammen, während ich frage: »Sind wir fertig?«, und nur weg möchte.
»Eins noch.« Sie schiebt ihre Karten in ein braunes Lederetui. »Ich mache mir Sorgen um deine kleine Schwester. Ich glaube, es ist Zeit, dass sie weiterzieht, meinst du nicht?«
Ich sehe sie an, wie sie dasitzt, so selbstgefällig und so allwissend, und über mein Leben urteilt, während sie mich überhaupt nicht kennt. »Nur zu Ihrer Information, Riley ist weitergezogen! Sie ist tot!«, flüstere ich und lasse ihre zusammengeknüllte Karte auf den Tisch fallen. Es kümmert mich nicht länger, wer es sieht.
Aber sie erwidert nur: »Ich glaube, du weißt, was ich meine.«